Unconditional Teaching start

Das eigene ‚Mittelmaß‘ anstreben

Tyll Zybura, 3. Februar 2022

Viele Studierenden haben eine ungesund stressige Alles-oder-Nichts-Haltung gegenüber ihrer eigenen Arbeit. Sie entspannen sich etwas, wenn sie lernen Prioritäten zu setzen, und wenn sie sich erlauben, bei weniger wichtigen Leistungen „Mittelmäßigkeit“ zu akzeptieren, um Zeit und Energie zu sparen. / Original English version: On ‘embracing mediocrity’.

In meinen Seminaren spreche ich häufig Fragen des Zeitmanagements, der Selbstfürsorge und der psychischen Gesundheit an, weil ich beobachte, dass Studierende zunehmend unter alarmierend hohem Druck, Stress und Angst leiden.

Ein Teil dessen, was ich meinen Studierenden vermittle, ist eine bewusstere Einstellung gegenüber der Tatsache, dass sie nur ‘gut genug’ zu sein brauchen, um ihre unbenoteten Kursarbeiten zu bestehen: Denn einerseits entsteht der Druck, den Studierende empfinden, in vielen Fällen aus der Selbstanforderung, immer ihre Beste Leistung einzureichen. Andererseits belegen die gleichen Studierenden aber auch eine hohe Anzahl von Seminaren, um ihr Studium schnell abzuschließen. Das lässt die Selbstanforderung der Perfektion schnell zu einer überwältigenden Bürde werden. 1

Was vielen Studierenden fehlt, sind die Strategien, ihre Zeit und ihren Arbeitsaufwand zu priorisieren, ihre Energien auf wichtige Aufgaben zu konzentrieren – etwa auf benotete oder anderweitige Leistungen mit ‘high stakes’ – und dort etwas Energie zu sparen, wo Exzellenz einfach nicht so wichtig ist.

Viele Studierende glauben nicht, dass sie es sich erlauben können, selbst banale Aufgaben nur halbherzig zu machen – ihre Mentalität ist “alles oder nichts”. Aber wenn die Messlatte Perfektion ist, können selbst moderate Bestehensanforderungen nicht en masse erfüllt werden. Das Ergebnis sind abgebrochene oder nicht-bestandene Kurse, angeschlagenes Selbstwertgefühl und zunehmende Versagensängste.

Unter dem nur halb scherzhaften Titel “embrace mediocrity!” – “strebe das Mittelmaß an!” – sage ich meinen Studierenden also, dass sie einerseits durchaus weniger Arbeit in weniger wichtige Aufgaben investieren dürfen, und dass es andererseits auch eine wichtige Selbstfürsorge-Strategie ist zu erkennen, wann die eigene Arbeit ‘gut genug’ ist.

Ich zeichne ihnen die folgende Grafik an die Tafel, die veranschaulicht, wie immer höherer Zeitaufwand eine exponentiell abnehmende Qualitätsverbesserung bewirkt, wohingegen eine ausreichende Qualität auch nur einen moderaten Zeitaufwand erfordert. Den Zeitaufwand für hohe Qualität investiert man dort, wo es wirklich notwendig ist. Und die Zeit, die man anderswo durch kalkuliertes Mittelmaß spart, kann man dann besser verwenden, zum Beispiel für Selbstfürsorge.

Grafik: Kurve von Zeitaufwand gegen Ergebnisqualität.

Natürlich ist dies eine Vereinfachung. Aber ich weiß aus unzähligen Feedbackbögen, dass dieses kleine Diagramm und mein zehnminütiger Vortrag über Prioritätensetzung und Selbstfürsorge eine enorme Wirkung auf die Studierenden hat.

Es ermöglicht ihnen, vier Dinge zu erkennen:

  • dass das Streben nach ständiger Perfektion ein hohes Potenzial für Selbstverletzung hat,
  • dass sie selbstwirksam entscheiden können, ihre Zeit nur wirklich notwendigen Dingen zu widmen,
  • dass sie selbstwirksam entscheiden können, was ‘notwendig’ zum gegebenen Zeitpunkt in ihrem Leben bedeutet,
  • dass es ein Akt der Selbstfürsorge ist, sich Zeit für Dinge zu nehmen, die genauso wichtig und oft noch wichtiger sind als das Erreichen von Exzellenz in ihrer universitären Ausbildung.

Ich sage meinen Studierenden, dass ich nicht ihre ‘beste Leistung’ erwarte – gemessen am Maßstab der Perfektion –, sondern dass ich jede Leistung als ihre beste akzeptiere – gemessen am Maßstab der aktuellen individuellen Kapazitäten, die von Person zu Person und von Lebensphase zu Lebensphase variieren können.

Das von mir als Dozent zu hören ist für viele eine große Erleichterung. So selbstverständlich es mir und vielen meiner Kolleg*innen erscheint, muss es laut ausgesprochen werden.

Dann beginnen Studierende, sich ein wenig zu entspannen. Und sie beginnen, ihre Energie dort einzusetzen, wo es wirklich darauf ankommt.


  1. Die Gründe für diesen Druck sind vielfältig: Viele Studierende identifizieren sich selbst als ‘Perfektionist*innen’, was meiner Meinung nach ein selbstzerstörerisches Label ist (siehe The poisonous perfectionist vs the constructive critic). Außerdem kreiert der öffentliche Diskurs in Deutschland häufig Horrorszenarien der garantierten Arbeitslosigkeit für diejenigen, die die Regelstudienzeit überschreiten oder keinen exzellenten Notendurchschnitt erreichen. Und natürlich reproduziert auch die Universität selbst einen Wettbewerbsdiskurs mit wenig Respekt und Empathie für diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht immer ihr Bestes geben können. ↩︎

Kommentare

Matthäus Wdowiak

7. Februar 2022

Hallo Tyll,

sehr interessantes Thema, und ich stimme deinen Schlußvollgerungen zu, dass das Sterben nach Perfektion im universitären Kontext häufig mehr schaden als nützen kann.Es stellt sich auch die Frage, nach wessen Maßstab viele Studenten Perfektion anstreben? Diese irrealen Ansprüche an sich selbst werden meiner Meinung heutzutage schon in der Schule geformt, wahrscheinlich durch die immer stärkere Tendenz zu guten und sehr guten Noten in den letzten 10-15 Jahren. Viele jüngere Studenten und Studentinnen kommen deshalb an der Uni schon mit einer durchschnittlichen Leistung mental nicht klar und investieren dann absurd viel Zeit und Energie um sich scheinbar zu verbessern. Am Ende schaden sie sich aber meistens mehr selbst dabei, da die Suche nach der Perfektion, der Suche nach einer Fata Morgana in der Wüste gleicht. Meiner Meinung nach könnte man diese Energie in viel nützlichere Projekte stecken, welche keinen Druck erzeugen, sondern im Gegensatz dazu, die mentale Fitness erhalten oder sogar steigern.

Jedenfalls hat mit der Artikel Stoff zum Nachdenken gegeben.

Grüße, Matthäus

Tyll Zybura

8. Februar 2022

Hi Matthäus,

Danke für deinen Kommentar! Ja, absolut: Gerade Menschen, die an der Schule immer gute Noten hatten und viel positive Verstärkung für ihren ‚Fleiß‘ oder ihre ‚Leistung‘ bekommen haben, empfinden die Schere als sehr groß zu der Art von Lernen, wie die Uni von es von ihnen verlangt.

Der Maßstab für Perfektion ist, glaube ich, häufig eine Mischung aus Selbstanforderungen, die sich auf diese früheren Schulleistungen beziehen, und den elitären Projektionen, die sie von Seiten vieler Hochschullehrenden erleben. Beides nicht hilfreich.

Deswegen setze ich eben auf diese Art von Meta-Kommunikation, damit Studierende sich zu ihrem eigenen Lernen bewusster in Bezug setzen können und den impliziten Anforderungen der Institution oder ihrer eigenen Biographie nicht so ausgeliefert sind.

Liebe Grüße!

Tyll


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